Online Diskussion des Verhältnisses von freier Kunst, angewandter Kunst und Kunsterziehung

Erschienen
27.09.2023

Erscheinungsort
Berlin, Deutschland

Liebe HbK-Künstler mit Mission!

Lange galt für die großbürgerliche Häme oder die kleinbürgerliche Dummheit, dass nur diejenigen Kunsterzieher werden, bei denen es nicht zum freien Künstler gereicht habe. In der Öffentlichkeit ist bis heute die historische Entwicklung nicht wahrgenommen worden, der zufolge bereits nach der Londoner Weltausstellung von 1852 die freie Kunst durch die Wirkungsmacht der angewandten Kunst weit in den Schatten gestellt wurde. 1869 wird durch das kaiserliche Dekret (Franz Joseph I.) zur Gründung der Kunstgewerbeschulen die Bedeutung der angewandten Kunst für die Entwicklung der „Deutschen Industrie“ in Konkurrenz zur französischen und englischen Industrie zu einem bestimmenden Faktor der Wirtschaftspolitik. 1904 konstatiert Meyer-Gräfe, dass sogar die ästhetische Avantgarde von der angewandten Kunst bestimmt würde (in erster Linie durch Waren- und Politpropaganda). Mit der Etablierung des Bauhauses erweitert sich der Wirkungskreis der angewandten Künste: Er erfasst in Fortsetzung der Lebensreformbewegung die gesamte Alltagswelt der Zeitgenossen.

Seit Luthers Zeiten war das Territorium der heutigen Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Quellgrund des objektiven und absoluten Geistes. Mit der Gründung der Fruchtbringenden Gesellschaft 1617 durch Weimarer und Köthener Landadel entwickelte sich ein dritter Strang der Arbeit mit dem Wirkungspotential künstlerischer Mittel: die Kunsterziehung bzw. die Ästhetik. Den Höhepunkt der historischen Entwicklung der „Ästhetischen Erziehung des Menschen“ bildete die Etablierung des Zeichenunterrichts als Primärfach aller Schulbildung in der postnapoleonischen Zeit. Seither begründete sich in Europa der Geltungsanspruch der Erziehung zu gestalterischen Fähigkeiten aus deren Bedeutung für die Aneignung von Kulturtechniken im Jugendalter. Erste Darstellungen von kulturanthropologischen Kenntnissen unterstützten diesen Anspruch.

Diese universale Aufgabenstellung der Kunstpädagogik blieb auch in jenen Phasen erhalten, in denen nationale Zugehörigkeiten zu nationalistischer Verpflichtung auf kulturelle Identität durch Lehrpläne die ästhetische Erziehung dominierten. Das galt sowohl in Zeiten deutschnationaler Pathetik als auch demokratischer Re-education.

Ein Fazit für die Abgrenzung der Kunstpädagogik von freien und angewandten Künsten kann lauten: Kunstpädagogen sind Künstler mit Verantwortung und Begründungspflicht für ihren Wirkungsanspruch; der freie Künstler adressiert die anonyme Öffentlichkeit, die Kunstgewerbler adressieren den Markt. Achtung: Generell sind Lehrer und Förster unmittelbar für ihre Wirkung verantwortlich, obwohl sie den tatsächlichen Erfolg ihrer Bemühungen höchstens in Andeutungen oder Versprechen erleben.

Wenn wir den Kunstpädagogen als Künstler mit Verantwortung für die Konsequenzen seines Tuns gegenüber freien und angewandten Künstlern absetzen, gewinnen wir eine Kennzeichnung, die von öffentlichem Interesse ist. So wird ja heute allgemein das Fehlen der Bereitschaft beklagt, für Handlungen und Entscheidungen Verantwortung zu übernehmen. Worin liegt die besondere Beispielhaftigkeit der kunstpädagogischen Verantwortung? Sie ist auch universell gesehen der einzige Bereich der Erziehung, in dem man lernt, dass nicht die hohen großen Ziele die Mittel rechtfertigen, sondern nur durch die Wahl der Mittel die Verfolgung von Zwecken tatsächlich kontrolliert werden kann. Um beispielsweise die Forderung nach Transparenz politischer Entscheidungen bildnerisch zu repräsentieren, nützt das Ziel für die Gestaltung gar nichts. Es zählen die Beherrschung von Grundlagen künstlerischer Formgebung, Materialauswahl und Bildkomposition. Was wird zum Beispiel bei der Darstellung von Wasser als Medium der Transparenz gewonnen? Dem Betrachter wird die Eigengesetzlichkeit aller Medien sichtbar und sinnlich erfahrbar, im Wasser beispielsweise die Brechung des Lichts.
So lernt man die Differenz von Zwecken und Mitteln oder von Buchstäblichkeit und Geist eines Textes kennen. Das ist grundlegend für alle politischen, sozialen und psychologischen Entscheidungen. Wer das nicht berücksichtigt, wird Extremist, Fundamentalist oder Totalitarist.

Demnach wäre eine Publikation der Tätigkeit unserer Veteranen, sehr häufig auch als vererbungsfähige fette Ahnen angesprochen, für die Öffentlichkeit interessant, wenn jeder in seinem Beitrag seine pädagogische Verpflichtung sichtbar werden lässt. Jeder muss sich überlegen und darstellen, was an seiner eigenen Arbeit, auch und gerade in der Erinnerung, von spezifischem Interesse für Bildungsarbeit sein könnte.

Achim Lipp („Die Zeltschule“, Hamburg 2018) hatte Beiträge der Veteranen der Zeltschule in einer weiteren Publikation unterbringen wollen. Der zweite Band sollte aber nicht mehr der Darstellung der historischen „Zeltschule“ an der HbK Hamburg dienen, sondern der pädagogischen Mission von Künstlern.

Bitte keine Bedenklichkeiten durch die geringen Erfolge oder gar Scheitern der pädagogischen Mission, gehen wir nicht alle mit Hochgenuss über Friedhöfe? Ich habe dort immer die lehrreichsten Beispiele von Begründung und Rechtfertigung gefunden, etwa wenn auf einem Grabstein neben der Namensnennung zu lesen war: ‚Er hatte tatsächlich Vorfahrt.‘

Vielleicht könnte die ganze Publikation als solch ein Grabstein in Erscheinung treten, mit dem Untertitel: Große Visionen der Kunsterziehung den wenigen Nachfahren erzählt.

Also, strengt Euch an, der Öffentlichkeit Eure große Mission erinnerbar zu machen!